Gesichertes Wissen über COVID-19
WissenschaftlerInnen der European Group on Immunology of Sepsis haben die Masse der erschienenen Publikationen zu COVID-19 gesichtet und ausgewertet.
Die seit anderthalb Jahren währende COVID-19-Pandemie hat einen beispiellosen Wettlauf um wissenschaftliche Erkenntnisse angestoßen, wie die Ansteckung zurückgedrängt und die Ausmaße und Folgen der Erkrankung begrenzt werden können. Die daraus entstehende Flut von wissenschaftlichen Daten ist selbst für ExpertInnen kaum noch zu überblicken. Es fällt zunehmend schwer, fundierte Erkenntnisse, vorläufige Befunde und Hypothesen auseinanderzuhalten – mit merklichen Folgen, auch was das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft betrifft.
Während Maßnahmen zur Infektionsprävention schnell bekannt und Impfungen im Rekordtempo entwickelt wurden, bleiben wichtige Fragen zu den Krankheitsmechanismen unterschiedlicher Krankheitsverläufe – asymptomatisch bis kritisch krank – ungeklärt. Ein Grund hierfür ist, dass die durch SARS-CoV-2 ausgelöste körpereigene Abwehrreaktion äußerst komplex und uneinheitlich ausfällt. Dadurch fehlen aber wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung evidenzbasierter Behandlungsstrategien gegen COVID-19.
Internationale, interdisziplinäre Kooperation für gesichertes COVID-19-Wissen
WissenschaftlerInnen der European Group on Immunology of Sepsis, kurz EGIS, haben nun die Masse der erschienenen Publikationen gesichtet und ausgewertet. In einem in The Lancet Respiratory Medicine erschienenen Übersichtsartikel fasst die Gruppe aus Wien, Göttingen und Jena die wichtigsten Erkenntnisse zum COVID-19-Krankheitsbild und unterschiedlichen Verlaufsformen zusammen. Als wissenschaftliche Diskussionsplattform etabliert, bietet das Netzwerk durch seine Interdisziplinarität beste Voraussetzungen dafür, die ausufernde COVID-Datenmenge zu sichten und kritisch zu durchleuchten. EGIS umfasst 27 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zehn Ländern, darunter auch Priv.-Doz. Dr .Marcin Osuchowski, Leiter der Intensivmedizinischen Forschung am Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie, Forschungszentrum der AUVA.
„Die vorbehaltsfreie Zusammenarbeit über Fächer- und Ländergrenzen hinweg ist entscheidend, gerade in der derzeitigen Situation“, betont EGIS-Koordinator Prof. Dr. Ignacio Rubio vom Universitätsklinikum Jena. „Nur durch die größtmögliche Bündelung wissenschaftlicher Expertise können wir in unserem Streben nach gesichertem COVID-19-Wissen vorankommen.“
Im Unterschied zu anderen Corona-Viren, die häufig nur milde bis moderate Erkältungssymptome verursachen, vermehrt sich SARS-CoV-2 in den unteren Atemwegen und löst so eine schwere Lungenentzündung bis hin zu akutem Lungenversagen aus. Ein entscheidender „infektiöser Vorteil“ von Sars-CoV-2 ist hierbei dessen gleichzeitig lang andauernde Besiedlung und Vermehrung auch in den oberen Atemwegen.
SARS-CoV-2 schädigt das Gefäßendothel
„Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass wir in einer bestimmten Phase der Erkrankung Patienten sehen, deren Sauerstoffgehalt im Blut kritisch reduziert ist, die aber zunächst oft keine Einschränkungen der Lungenbelüftung zeigen. Patienten atmen selbst in Ruhe nicht selten ein Vielfaches als normal üblich. Dies ist neu für uns! Es ist vermutlich ein Ausdruck, dass die virale Infektion zunächst eher die Blutgefäße betrifft als die belüfteten Areale der Lunge und so den schweren Sauerstoffmangel verursacht. Durch eine virusbedingte Schädigung der innersten Zellschicht von Blutgefäßen, dem Endothel, erklären sich auch andere häufige COVID-19 typische Organkomplikationen durch z.B. Thrombosen oder Gerinnungsstörungen“, so Priv.-Doz. Dr. med. Martin Winkler von der Universitätsmedizin Göttingen.
Dazu kommt eine untypische Immunantwort. Im Vergleich zu Influenza und anderen schweren Infektionen werden bei COVID-19 länger entzündungsfördernde Botenstoffe, Zytokine genannt, produziert, jedoch in deutlich niedrigerer Konzentration. Dieses untypische Entzündungsprofil unterscheidet COVID-19 von anderen septischen Krankheitsbildern und erschwert möglicherweise die Immunantwort und damit auch die effiziente Elimination des Virus. Tatsächlich ist eine hohe virale Belastung mit der Erkrankungsschwere assoziiert.
COVID-19: eine neuartige schwere Lungeninfektion
Im Verbund mit einer fehlregulierten Entzündungsantwort kann die Schädigung des Endothels nicht nur die Lunge, sondern auch Organe wie Gehirn, Herz, Nieren, Darm und Leber in Mitleidenschaft ziehen. Verglichen mit einer Influenza-Grippe oder SARS treten bei COVID-19 Komplikationen wie Multiorganversagen und schwere Gerinnungsstörungen häufiger auf.
Priv.-Doz. Dr. Marcin Osuchowski erklärt: „SARS-CoV-2 ist ein neues infektiöses Pathogen, welches unser Immunsystem vor eine neue Herausforderung stellt. Es wird damit verständlich, dass unsere Herangehensweise nicht die sein darf, bekannte und bisher vertretene Konzepte schlicht auf COVID-19 zu übertragen. Es wird zunehmend deutlich, dass die Schwere von COVID19-Erkrankungen mit einer fehlregulierten Antwort des Immunsystems in Zusammenhang steht, die sich von bislang bekannten Mechanismen und Ursachen einer Sepsis unterscheidet. Wir raten zur Vorsicht gegenüber der weit verbreiteten Vorstellung eines systemischen Zytokinsturms als führender Grund für die beobachteten Multiorganreaktionen. Die Datenlage dazu ist noch nicht eindeutig.“
In ihrer Übersicht formuliert die EGIS-Gruppe Forschungsfragen, die mit hoher Priorität zu beantworten sind. Dazu zählen unter anderem die genauere Charakterisierung der Prognosemarker für den Verlauf und Langzeitfolgen der Erkrankung, sowie qualitativ hochwertige klinische Studien zur Optimierung der gerinnungshemmenden und immunmodulatorischen Therapien.
Über das Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie
Das Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie (kurz „LBI Trauma“) umfasst derzeit 70 MitarbeiterInnen und wird seit 2018 von Prof. Johannes Grillari geleitet. Ein Team aus Experten verschiedener Fachdisziplinen – von Biologie und Medizin bis hin zu Ingenieurswissenschaften − erlaubt es, ein sehr großes Spektrum angewandter Forschung abzudecken. Die beiden großen Forschungsbereiche am Institut sind Geweberegeneration und Intensivmedizin. Verbesserungen diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen in Unfallchirurgie und Intensivmedizin stehen dabei im Vordergrund. Als Forschungszentrum der AUVA ist das Institut in seinem Praxisbezug einzigartig.
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