Höhere COVID-19 Sterblichkeit nicht alleine durch enge familiäre Kontakte erklärbar
Mehr COVID-19 Fälle und höhere Sterblichkeitsraten können nicht alleine durch familiäre Kontakte – wie die Betreuung von Enkelkindern oder das Zusammenleben mehrerer Generationen – erklärt werden. Frühere Studien ließen vermuten, dass in Ländern wie Italien, in denen enge generationenübergreifende Kontakte üblich sind, höhere Corona bedingte Sterblichkeitsraten vorkommen. Ein internationales Forscher*innenteam um die Soziologin Valeria Bordone von der Universität Wien hat jetzt regionale Daten analysiert und kann diesen Zusammenhang nicht bestätigen. Denn: Innerhalb Italiens war die Sterblichkeit in jenen Regionen am höchsten, in denen das Zusammenleben mehrerer Generationen eher selten ist. Die Studie erscheint aktuell in "PNAS".
Die bisherige Entwicklung der Corona-Pandemie wirft die Frage auf, welche Faktoren zur Ausbreitung des Virus beitragen. Mehrere in den letzten Monaten veröffentlichte Studien vertreten die These, dass enge Beziehungen zwischen Menschen mehrerer Generationen zu einer schnelleren Ausbreitung und höheren Sterblichkeitsraten führen könnten. Diese Studien sind auf Basis nationaler Daten gefolgert, dass in Ländern wie Italien – in denen häufig Personen mehrerer Generationen zusammenleben – die Sterblichkeitsraten höher sind.
Ein internationales Team von Wissenschafter*innen der Universitäten Wien, Florenz und Pompeu Fabra hat jetzt auch regionale Daten analysiert und festgestellt, dass dieser Schluss unzulässig ist. Die aktuelle Studie warnt daher vor vereinfachten Interpretationen von scheinbaren Zusammenhängen zur Erklärung der unterschiedlichen Ausbreitung und Todesraten von COVID-19.
Höhere Sterblichkeit ist eher auf schwächere Gesundheitssysteme zurückzuführen
Die Wissenschafter*innen Valeria Bordone, Bruno Arpino und Marta Pasqualini analysierten Daten aus 19 europäischen Ländern und damit den Zusammenanhang zwischen generationenübergreifenden Beziehungen und den Sterblichkeitsraten sowie der Anzahl der Fälle pro 100.000 Einwohner*innen. Auf nationaler Ebene konnte, wie vermutet, der Zusammenhang zwischen engen generationenübergreifenden Beziehungen und höheren Sterblichkeitsraten bestätigt werden – so gab es beispielsweise mehr Fälle und eine höhere Sterblichkeitsrate in Ländern, in denen erwachsene Kinder häufig bei ihren Eltern leben.
Bei der Analyse der Daten auf subnationaler Ebene hat sich dieser Zusammenhang jedoch umgekehrt – beispielsweise waren in Italien Regionen, in denen selten mehrere Generationen zusammen leben trotzdem am stärksten von der Pandemie betroffen. "Der positive Zusammenhang zwischen generationenübergreifenden Beziehungen und COVID-19-Fällen auf nationaler Ebene könnte auf schwächere Gesundheitssysteme zurückzuführen sein. Auf regionaler Ebene könnte der negative Zusammenhang mit einem höheren Anteil an älteren Menschen in Altersheimen zu tun haben," sagt Bordone. So wurde beispielsweise in der Lombardei eine der höchsten Sterblichkeitsraten in Italien gemessen, obwohl dort vergleichsweise wenige generationenübergreifende Kontakte bestehen. Gleichzeitig leben in der Lombardei vergleichsweise viele ältere Menschen in Altersheimen.
Familiäre Beziehungen sind in Krisenzeiten wichtig
Laut den Autor*innen sollte nicht übersehen werden, dass generationenübergreifende Beziehungen auch eine positive Rolle – in Form von emotionaler und instrumenteller Unterstützung – spielen können: "Familiäre Beziehungen, ob physisch oder auf Distanz, haben möglicherweise dazu beigetragen, dass die Einschränkungen in Lockdown-Phasen eher eingehalten wurden. Somit wurde dadurch die Verbreitung von COVID-19 eher gehemmt", sagt Bordone.
Auch für die Politik ist von großer Bedeutung, welche Faktoren die Verbreitung und Letalität von COVID-19 beeinflussen. "Wir warnen vor übereilten Fehlinterpretationen basierend auf dem Vergleich von Ländern", sagt Bordone. "Politische Maßnahmen sollten generationenübergreifende Beziehungen als möglichen Übertragungsweg des Virus, aber auch als Quelle der familiären Unterstützung berücksichtigen".
Angesichts der Tatsache, dass soziale Kontakte nicht zwangsläufig physischer Natur sein müssen – ebenso wenig wie physische Kontakte automatisch soziale Kontakte implizieren – empfehlen die Wissenschafter*innen zudem, den Begriff "soziale Distanzierung" durch den Begriff "physische Distanzierung" zu ersetzen.
Publikation in "PNAS":
Arpino, B., Bordone, V., Pasqualini, M. (2020). No clear association emerges between intergenerational relationships and COVID-19 fatality rates from macro-level analyses.
DOI: 10.1073/pnas.2008581117
Wissenschaftlicher Kontakt
Ass.-Prof. Dr. Valeria Bordone
Institut für Soziologie
Universität Wien
1090 Wien, Roosevelt Platz 2
T +43 (0) 6607463111
valeria.bordone@univie.ac.at
Rückfragehinweis
Pia Gärtner, MA
Pressebüro der Universität Wien
Universität Wien
1010 - Wien, Universitätsring 1
T +43-1-4277-17541
pia.gaertner@univie.ac.at