Langsame Elektronen gegen den Krebs
Bei der Ionentherapie nutzt man komplizierte atomphysikalische Effekte, um Krebszellen zu zerstören. An der TU Wien identifizierte man nun einen Mechanismus, der das deutlich erleichtert.
In der Krebstherapie verwendet man heute oft Ionenstrahlen: Elektrisch geladene Atome werden auf den Tumor geschossen, um Krebszellen zu zerstören. Dabei sind es allerdings gar nicht die Ionen selbst, die den entscheidenden Schaden anrichten. Wenn Ionen durch festes Material dringen, können sie einen Teil ihrer Energie auf viele einzelne Elektronen verteilen, die sich dann mit recht niedriger Geschwindigkeit weiterbewegen – und genau diese Elektronen zerstören dann die DNA der Krebszellen.
Dieser Mechanismus ist vielschichtig und noch nicht vollständig verstanden. An der TU Wien konnte nun gezeigt werden, dass ein bisher in diesem Zusammenhang wenig beachteter Effekt eine wesentliche Rolle spielt: Durch den sogenannten interatomaren Coulomb-Zerfall kann ein Ion zusätzliche Energie an umliegende Atome abgeben. Dadurch wird sehr lokal eine erstaunlich große Anzahl von Elektronen frei – und zwar genau mit der passenden Energie, um die DNA der Krebszellen optimal zu schädigen. Um die besondere Wirksamkeit der Ionentherapie zu verstehen und weiter zu verbessern, muss dieser Mechanismus unbedingt mitberücksichtigt werden. Das Ergebnis wurde nun im Fachjournal „Journal of Physical Chemistry Letters“ publiziert.
Ein schnelles Teilchen – oder viele langsame
Wenn ein geladenes Teilchen mit hoher Geschwindigkeit durch ein Material dringt – zum Beispiel durch menschliches Gewebe – dann richtet es entlang seines Pfades ein großes atomphysikalisches Durcheinander an: „Eine ganze Kaskade von Effekten kann dadurch ausgelöst werden“, sagt Janine Schwestka, Erstautorin der aktuellen Publikation, die derzeit im Team von Prof. Friedrich Aumayr und Dr. Richard Wilhelm an ihrer Dissertation arbeitet. Wenn sich das Ion zwischen anderen Atomen hindurchbewegt, können diese und weitere Teilchen ionisiert werden, schnelle Elektronen fliegen herum, die dann wieder mit anderen Teilchen zusammenstoßen. Letztendlich kann ein schnelles, geladenes Ion einen Teilchenschauer aus hunderten Elektronen mit jeweils viel niedrigerer Energie auslösen.
Aus dem Alltag sind wir gewohnt, dass schnelle Objekte dramatischere Auswirkungen haben als langsame: Ein mit voller Wucht getretener Fußball richtet im Porzellanladen größeren Schaden an als ein sanft gerollter. Auf atomarer Ebene trifft das aber nicht zu: „Die Wahrscheinlichkeit, dass ein langsames Elektron einen DNA-Strang zerstört, ist viel größer. Ein sehr schnelles Elektron hingegen fliegt meistens einfach am DNA-Molekül vorbei, ganz ohne Spuren zu hinterlassen“, erklärt Janine Schwestka.
Von einer Elektronenschale zur anderen
Das Team der TU Wien nahm nun einen ganz besonderen Effekt genauer unter die Lupe – den interatomaren Coulomb Zerfall. „Die Elektronen des Ions können unterschiedliche Zustände annehmen. Je nachdem, wie viel Energie sie haben, befinden sie sich in einer der inneren Schalen, nahe am Atomkern oder in einer äußeren Schale“, sagt Janine Schwestka. Nicht alle möglichen Elektronen-Plätze sind besetzt. Wenn eine Elektronenschale im mittleren Energiebereich frei ist, dann kann ein Elektron aus einer Schale mit hoher Energie dorthin überwechseln. Dabei wird Energie frei – und die kann nun über den interatomaren Coulomb-Zerfall an das Material abgegeben werden: „Das Ion überträgt diese Energie auf mehrere Atome in der direkten Umgebung gleichzeitig. Aus all diesen Atomen wird jeweils ein Elektron herausgelöst, aber weil die Energie auf mehrere Atome aufgeteilt wird, handelt es sich dabei um lauter recht langsame Elektronen“, erklärt Schwestka.
Xenon und Graphen
Mit Hilfe eines ausgeklügelten Versuchsaufbaus konnte man nun zeigen, wie wirkmächtig dieser Prozess ist: Mehrfach geladene Xenon-Ionen wurden auf eine Graphen-Schicht geschossen. Elektronen aus den äußeren Xenon-Schalen wechseln auf eine Position in einer anderen Schale mit kleinerer Energie, dafür werden aus zahlreichen Kohlenstoff-Atomen der Graphen-Schicht Elektronen herausgelöst, die dann von einem Detektor aufgefangen werden, um ihre Energie messen zu können. „Tatsächlich konnten wir auf diese Weise zeigen, dass der interatomare Coulomb-Zerfall einen sehr wichtigen Beitrag zur Entstehung zahlreicher freier Elektronen im Material leistet“, sagt Prof. Friedrich Aumayr.
Um die Wechselwirkung von Ionenstrahlen mit festen Materialien oder organischem Gewebe richtig zu beschreiben, muss dieser Effekt unbedingt berücksichtigt werden. Wichtig ist das einerseits für die Optimierung von Ionenstrahltherapien zur Bekämpfung von Krebs, aber auch für andere wichtige Bereiche – etwa für die Gesundheit der Besatzung von Raumstationen, wo man ständigem Teilchenbombardement der kosmischen Strahlung ausgesetzt ist.
Originalpublikation
Kontakt
Dipl.-Ing. Janine Schwestka
Institut für Angewandte Physik
Technische Universität Wien
Wiedner Hauptstraße 8–10, 1040 Wien
T +43-1-58801-13435
janine.schwestka@tuwien.ac.at
Aussender:
Dr. Florian Aigner
PR und Marketing
Technische Universität Wien
Resselgasse 3, 1040 Wien
T +43-1-58801-41027
florian.aigner@tuwien.ac.at