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Mikrochimärismus beim Menschen: ein Puzzle für die Wissenschaft Den fremden Zellen in uns auf der Spur

16.03.2022

Eine neu aufgestellte internationale Gruppe von Wissenschafter*innen hat eine Förderung in Höhe von 5,4 Millionen US-Dollar der John Templeton Foundation erhalten, um dem Phänomen des Mikrochimärismus auf den Grund zu gehen. Das internationale Team wird geleitet von Thomas Kroneis (Medizinische Universität Graz) und Amy Boddy (University of California, Santa Barbara). Frank Schildberg (Universitätsklinikum Bonn), Michael Eikmans (Leiden University Medical Center) und Henderson Cleaves (Tokyo Institute of Technology und Blue Marble Space Institute of Science) komplettieren das internationale Team.

Mikrochimärismus entsteht, wenn eine Person Zellen in sich trägt, die zwei oder mehr verschiedenen Individuen entstammen. Beim Menschen kommt es schon während der Schwangerschaft zu diesem Austausch von Zellen zwischen Mutter und Kind, der in erster Linie für dieses Phänomen verantwortlich ist. Dabei können sich diese „fremden“, mikrochimären Zellen nach ihrer Reise von einem Individuum zum nächsten ein Leben lang im neuen Körper aufhalten. Folglich sind wir möglicherweise alle Chimären und könnten Zellen unserer Vor- und Nachfahr*innen in uns tragen.

Die Rätsel der Chimäre

Die Frage, wie diese Zellen in den Körper gelangen und ob sie unsere Physiologie beeinflussen, gilt es zu beantworten. Bekannt ist, dass sich mikrochimäre Zellen in nahezu alle Zelltypen differenzieren können, auch zu Zellen unseres Gehirns. Mikrochimärismus scheint eine paradoxe Rolle in unserer Gesundheit zu spielen. Einerseits zeigen Studien Vorteile auf, zum Beispiel bei der Regeneration von mütterlichem Gewebe oder beim Sicherstellen des immunologischen Schutzes für den sich entwickelnden Fötus. In anderen Studien wurde dem Mikrochimärismus eine Rolle bei der Entstehung von Erkrankungen zugewiesen, etwa im Zusammenhang mit Schwangerschaftskomplikationen wie Präeklampsie oder spontanen Fehlgeburten, aber auch bei Krebs und Autoimmunerkrankungen.

In ihrer Hypothese gehen die Forscher*innen davon aus, dass Mikrochimärismus weiter verbreitet ist als bisher angenommen. Zudem wird vermutet, dass die mikrochimären Zellen eine adaptive Rolle in ihren Wirt*innen einnehmen, wodurch sie positive Effekte für Mütter und deren Nachkomm*innen bieten könnten, etwa in Form von Stammzellen oder Schlüsselkomponenten und -signalen für das Immunsystem. Allerdings mag diese für beide profitable Situation nicht für alle Gewebe gelten, denn manchmal decken sich die „genetischen“ Interessen der Mutter und ihres Kindes nicht, was zu einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit führen kann.

Puzzle der Wissenschaft: Herausforderung in der Forschung

„Die Analyse sehr seltener Zellen, wie es die mikrochimären Zellen sind, war immer schon eine Herausforderung für die Wissenschaft. Das liegt vor allem daran, dass es nur sehr wenige eindeutige Marker gibt, die für eine unkomplizierte Analyse geeignet sind“, berichtet Thomas Kroneis, Lehrstuhl für Zellbiologie, Histologie und Embryologie der Med Uni Graz und Leiter des internationalen Konsortiums. Der am häufigsten verwendete Marker zur Detektion von mikrochimären Zellen war das Y-Chromosom, weil es vermeintlich einfach zu analysieren ist. „Das beschränkte sich dann aber auf die Erkennung von männlichen fötalen Zellen im Körper ihrer Mütter. Einerseits erlaubt es keine Analyse von Mutter-Tochter-Proben, andererseits erschwert es auch die Analyse von maternalem Mikrochimärismus – also von mütterlichen Zellen in ihren Nachkomm*innen.“ Ein Problem, dem sich Thomas Kroneis schon während seiner Dissertation widmete und das er mittels forensischer DNA-Analyse einzelner Zellen gelöst hat.

„Um die richtigen Werkzeuge für unsere Untersuchungen zu entwickeln, werden wir tief in die Trickkiste der Molekularbiologie greifen und neueste Techniken für uns adaptieren, zum Beispiel Spatial Histology.“ Dies ist ein Ansatz, der es dem Histologen Thomas Kroneis erlaubt, Zellen anhand Hunderter unterschiedlicher RNA-Transkripte direkt im Gewebeschnitt zu charakterisieren und Rückschlüsse aus ihrer örtlichen Lage zu ziehen – etwa wenn es um die Frage geht, welchem Zelltyp die mikrochimären Zellen angehören und welche Immunzellen sich in ihrer Umgebung befinden. „Spatial Histology – also die ortsabhängige Charakterisierung von Zellen im Kontext von Gewebe – ist eine Methode, die die Analyse von Einzelzellen mit ihrer Umgebung in Zusammenhang bringt“, erklärt Thomas Kroneis. „Es ist wie bei einem Puzzle. Die einzelnen Teile sind wie Zellen – man erkennt Ausschnitte eines Bildes, kann aber noch keinen Zusammenhang oder gar ein Gesamtbild festmachen, obwohl man manche wie Rand- oder Eckteile bereits ungefähr verorten kann. Das volle Bild und somit der Inhalt erschließt sich einem aber nur, wenn die Puzzleteile am richtigen Ort liegen. Das heißt, auch für mikrochimäre Zellen ist entscheidend, in welchen Geweben sie sich befinden und welche Zellen des Immunsystems in ihrer Nähe sind.“

Ziel des internationalen Konsortiums sind die Charakterisierung von mikrochimären Zellen, deren Verteilung im Gewebe und die Beantwortung der Fragen, wie sie dorthin gelangen und welchen Einfluss sie auf die unterschiedlichen Gewebe und das Immunsystem haben. Die Forschung wird ihren Beitrag in Bezug auf die Fragestellungen leisten, wie die mikrochimären Zellen mit ihrem Zielgewebe interagieren, um eine Toleranz für Mikrochimärismus in der Schwangerschaft aufzubauen und auch noch nach der Geburt zu erhalten, ob es während bestimmter Erkrankungen zum Zusammenbruch dieser Immuntoleranz kommt und, wenn ja, welche Ursachen dahinterstecken.

Ziele der Forschung

Die Mission des Projekts ist klar: Vorantreiben des fundamentalen Verständnisses von Mikrochimärismus. Bewerkstelligt wird das durch die Charakterisierung der mikrochimären Zellen, ihrer Umgebung und ihrer Interaktion mit dem Immunsystem quer über unterschiedliche Gewebe und Entwicklungsperioden in Mensch und Maus. Der Ansatz nimmt Anlehnung an Prinzipien der Evolutionstheorie und Systembiologie, um ein tieferes Verständnis für die Auswirkungen von Mikrochimärismus auf Mutter und Kind zu bekommen. Dieses Projekt dient dem wachsenden Feld der Mikrochimärismusforschung als Anschub – nicht nur in Form der generierten Daten und analytischen Werkzeuge. Ziele des Projekts sind auch die Ausrichtung von Meetings, die Veranstaltung von Vorträgen und Lehre, die Unterstützung von Jungforscher*innen, die Bereitstellung von Lehrmaterial sowie die Veranstaltung von Ausstellungen und Vorträgen für die interessierte Öffentlichkeit.

Dieses Projekt hat das Potenzial für viele neue Entdeckungen in der Biologie von Mutter-Kind-Interaktionen und eröffnet die Möglichkeit, den Einfluss dieser Biologie auf unsere Gesundheit und sogar die Evolution der Säugetiere zu enträtseln. „Wir sind hoch motiviert und sitzen schon ungeduldig um den Tisch, um mit dem Puzzle zu beginnen!“, freut sich Thomas Kroneis.

Facts & Figures

  • Projekt:         We All Are Multitudes: the Microchimerism, Human Health and Evolution Project
  • Projektstart: Dezember 2021
  • Laufzeit:       33 Monate
  • Budget:         5 339 698,40 US-Dollar, davon 2 246 698,75 US-Dollar für die Med Uni Graz
  • Partner*innen: Med Uni Graz/CBmed, University of California Santa Barbara, Leiden University Medical Center, Blue Marble Space Institute of Science/Tokyo Technical University, Uniklinikum Bonn

Weitere Informationen und Kontakt

Univ.-Ass. Priv.-Doz. Dipl.-Ing. Dr. Thomas Kroneis
Medizinische Universität Graz
Lehrstuhl für Zellbiologie, Histologie und Embryologie
Tel.: +43 / 316 / 385-71904
E-Mail: thomas.kroneis@medunigraz.at