Pharmig: Status Quo Bewertungsboard: Was ein rascher Therapiezugang braucht
Mehr Gewicht auf fachspezifische Expertise, klare Regeln und schnelle Entscheidungen helfen, Rechtssicherheit zu schaffen und Verzögerungen bei Therapien zu vermeiden.
Mit dem neuen Bewertungsboard soll sichergestellt werden, dass Patient:innen in ganz Österreich einen gleichberechtigten Zugang zu spezialisierten Therapien im Krankenhausbereich haben. Doch die festgelegten Verfahrensregeln geben Anlass zur Befürchtung, dass die Therapien, die von diesem Gremium begutachtet werden, erst mit großer zeitlicher Verzögerung oder mitunter gar nicht für die Behandlung zur Verfügung stehen könnten. Spezifische Gründe sowie Lösungen wurden gestern beim 16. Rare Diseases Dialog der PHARMIG ACADEMY intensiv diskutiert.
Univ.-Prof. Dr. Michael Freissmuth, Vorstand des Instituts für Pharmakologie und Leiter des Zentrums für Physiologie und Pharmakologie an der Medizinischen Universität Wien, ist Mitglied und Vorsitzender des Bewertungsboards. Er gehört zu den Expert:innen, die Empfehlungen darüber abgeben, in welchen Fällen in Österreich welche innovativen Therapien eingesetzt werden sollen. „Bisher existierte ein fragmentiertes System von Prozessen, in dem Arzneimittel im intramuralen Bereich bewertet wurden. Im Rahmen der Gesundheitsreform 2023 wurde das Bewertungsboard mit dem Ziel eingerichtet, einen österreichweit einheitlichen Einsatz spezialisierter Arzneimittel am ‘best point of service’ zu gewährleisten. Das Bewertungsboard hat daher die Aufgabe, transparente und nachvollziehbare Empfehlungen auf Grundlage wissenschaftlicher Kriterien abzugeben“, schildert Freissmuth den Anspruch an dieses Gremium.
Wo bzw. warum es hier aber zu Problemen kommen kann, diesen Anspruch zu erfüllen, schildert Univ.-Prof.in Dr.in Claudia Fuchs, Professorin am Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Bekenntnisse zu raschem und gerechtem Zugang, zu Transparenz und zur ärztlichen Therapiehoheit auf dem gesetzlich garantierten Behandlungsniveau am Stand der Wissenschaft wurden in der Geschäftsordnung ausdrücklich verankert, was - gemeinsam mit relevanten Konkretisierungen der gesetzlichen Grundlage - jedenfalls begrüßenswert ist. Freilich hätte man sich manche Aussage im Gesetz selbst gewünscht, und auch gewisse Unsicherheiten sowie Lücken in der Durchsetzung verbleiben weiterhin - weshalb eine gesetzliche Nachjustierung nicht von der Hand zu weisen ist.“
Laut der Rechtsexpertin sollen diese Empfehlungen einerseits durch die regionalen Arzneimittelkommissionen zur Anwendung gebracht werden, stellen aber andererseits auch Sachverständigengutachten dar, die bei der Auswahl von Arzneimitteln zur Sicherung des Behandlungsniveaus berücksichtigt werden sollen, denen aber nicht unbedingt gefolgt werden muss. Zudem gibt es weder einen Anspruch auf zeitnahe Erlassung einer Empfehlung noch eine Möglichkeit, vor allem gegen negative Empfehlungen Einspruch zu erheben. „Das alles lässt Verzögerungen beim Zugang zu Therapien befürchten und geht auf Kosten der Rechtssicherheit für Patientinnen und Patienten, aber auch auf jene der Unternehmen, die diese Produkte entwickeln und bereitstellen“, hält Fuchs fest.
Pro Rare Austria, die österreichische Allianz für seltene Erkrankungen, fordert seit Jahren den österreichweit einheitlichen Zugang zu innovativen Therapien und erhofft sich mit dem Bewertungsboard entsprechende Verbesserungen. Mag.a Elisabeth Weigand, Geschäftsführerin von Pro Rare Austria, fordert, dass die Sichtweise der Patient:innen mit spezifischen Indikationen in den Bewertungsprozess einbezogen wird. Dieser Prozess sollte so früh wie möglich beginnen und auf Horizon Scanning basieren, einem systematischen Verfahren zur frühzeitigen Erkennung und Bewertung neuer Entwicklungen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass es keine Verzögerungen oder Einschränkungen beim Zugang zu innovativen Therapien gibt: „Gerade bei Menschen mit seltenen Erkrankungen ist Zeit ein entscheidender Faktor. Es ist wichtig, dass Entscheidungen schnell getroffen werden und dass das Verfahren keine Verzögerungen beim Erhalt von Therapien verursacht, die irreparable Schäden durch die Krankheit verhindern könnten. Darüber hinaus ist natürlich die Finanzierung und Erstattung der Therapien sicherzustellen, zum Beispiel durch einen ausreichend dotierten Topf, der bei Bedarf entsprechend aufgestockt wird.“
Gerade eine bundesweit einheitliche Finanzierung dieser Therapien betrachtet Univ.-Prof.in Dr.in Barbara Plecko, Leiterin der Klinischen Abteilung für Allgemeine Pädiatrie, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde und stellvertretende Ärztliche Direktorin am Landeskrankenhaus Universitätsklinikum Graz, als wesentlich: „In Österreich sind etwa 400.000 Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen. Für einen wachsenden Teil dieser Erkrankungen gibt es neu entwickelte oder verbesserte Therapiemöglichkeiten. Diese sollen zum Wohl der Patientinnen und Patienten möglichst rasch in die klinische Anwendung gelangen, um deren volles Potenzial auch so früh wie möglich ausschöpfen zu können. Die föderalen Strukturen sowie die Unterschiede in der intra- und extramuralen Finanzierung stellen jedoch aktuell Hürden im Zugang zu solchen neuen Therapien dar.“ Plecko sieht in dem neu geschaffenen Bewertungsboard die Möglichkeit, den Einsatz neuer, wirksamer Medikamente unter Einbezug der jeweiligen Expert:innen bundesweit rasch und einheitlich zu ermöglichen.
Um den Zugang zu innovativen Medikamenten im intramuralen Bereich und an der Nahtstelle zu fördern, weist Priv.-Doz. Dr. Robert Sauermann, stellvertretender Leiter der Abteilung „Vertragspartner Medikamente“ im Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, auf die Notwendigkeit weiterer Schritte hin: „Eine besondere Herausforderung für das Board ist die möglichst frühzeitige und zügige Bearbeitung neuer Medikamente. Dabei wird es wichtig sein, rationale Einsatzkriterien zu definieren, die eine hohe Behandlungsqualität für die Patientinnen und Patienten sicherstellen.“ Wie diese Kriterien eines bestimmten Medikaments konkret aussehen, müsse im Rahmen jedes einzelnen Bewertungsprozesses sorgfältig geklärt werden.
Für mehr Klarheit plädiert auch Prim. Univ.-Prof. Dr. Joerg R. Weber, Abteilungsvorstand und stellvertretender Medizinischer Direktor der Kärntner Landeskrankenanstalten-Betriebsgesellschaft, Klinikum Klagenfurt am Wörthersee, und ein Ländervertreter des Bewertungsboards: „Das innovativste Arzneimittel kann nicht wirken, wenn Patientinnen und Patienten nicht damit behandelt werden. Das Ergebnis des Bewertungsboards ist als Sachverständigengutachten qualifiziert, als unverbindliche Empfehlung. Was wir daher brauchen, ist Verbindlichkeit - und zwar für alle, auch für die pharmazeutische Industrie.“ Weber ergänzt: „Die Vereinheitlichung des Medikamentenzugangs soll dazu beitragen, Planungssicherheit für alle Beteiligten zu erreichen. Rechtliche Auseinandersetzungen sind hingegen zu vermeiden. Denn da gibt es keine Gewinner, unabhängig davon, auf welcher Seite man steht. Stattdessen müssen wir alle dazu beitragen, das Vertrauen ins Gesundheitssystem wieder zu erhöhen.“
Warum die Entscheidungen dieses Gremiums aus Sicht der Unternehmen, deren Produkte bewertet werden, von höchster Relevanz sind, erklärt Univ.-Prof. MMag. Dr. Gabriel Felbermayr, PhD, Direktor des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung: „Diese Produkte zeichnen sich durch hohe Forschungsaktivität, ein hohes Ausfallsrisiko und spezifisches Management aus. Sie erfordern erhebliche Anfangsinvestitionen während des Entwicklungsprozesses, ohne Gewissheit, ob diese Investitionen jemals Erträge bringen werden.“ Die wirtschaftlichen Bewertungen solcher Produkte sind laut Felbermayr besonders komplex und risikobehaftet. „Das erschwert es, durch Forschung hergestellte Produkte, die einen so wichtigen Nutzen zur Behandlung von seltenen Erkrankungen leisten, adäquat zu bewerten, da der immense Aufwand und die Risiken oft nicht vollständig in den wirtschaftlichen Bewertungen abgebildet werden können“, so Felbermayr in seinen Erläuterungen zur Forschungsökonomie solcher spezialisierten Produkte.
„Nach wie vor gibt es keine einschlägige indikationsspezifische fachmedizinische Besetzung im Board. Das birgt die Gefahr, dass unsachgemäße Maßstäbe für die Bewertung von Therapien herangezogen werden“, hält Dr. Ronald Pichler, Head of Public Affairs & Market Access bei der PHARMIG, fest. „Außerdem bestehen Unklarheiten hinsichtlich des Rechtsschutzes für Patienten und Unternehmen“, schließt sich Pichler der Analyse von Rechtsprofessorin Fuchs an, und ergänzt: „Die mangelnde Planbarkeit für Unternehmen, insbesondere wann welches Produkt ins Board aufgenommen wird, erschwert die Situation weiter. Darüber hinaus führt die Uneinheitlichkeit in der Behandlung auf Grund des Fehlens einer zentralen, einheitlichen Finanzierung zu weiteren Problemen. Das geht am Ziel vorbei, Patientinnen und Patienten die bestmögliche Versorgung zu bieten und ihnen auch zeitnah die am besten geeignete Therapie zu ermöglichen.“
Abbildungen der Veranstaltung sind im Newsroom der PHARMIG ACADEMY abrufbar.
Über die PHARMIG ACADEMY: Die PHARMIG ACADEMY ist das Aus- und Weiterbildungsinstitut der PHARMIG, des Verbands der pharmazeutischen Industrie Österreichs. Sie bietet Seminare, Lehrgänge und Trainings zu allen Themen des Gesundheitswesens. Das Angebot orientiert sich an aktuellen Entwicklungen und richtet sich an alle, die Interesse am Gesundheitsbereich haben bzw. darin tätig sind. Das Format des Rare Diseases Dialog bietet allen Betroffenen, Interessierten und relevanten Akteuren eine offene Diskussionsplattform zu aktuellen Themen im Bereich der seltenen Erkrankungen.
Über die PHARMIG: Die PHARMIG ist die freiwillige Interessenvertretung der österreichischen Pharmaindustrie. Derzeit hat der Verband ca. 120 Mitglieder (Stand November 2024), die den Medikamenten-Markt zu gut 95 Prozent abdecken. Die PHARMIG und ihre Mitgliedsfirmen stehen für eine bestmögliche Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln im Gesundheitswesen und sichern durch Qualität und Innovation den gesellschaftlichen und medizinischen Fortschritt.
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