REINE NERVENSACHE: VERNETZUNG VON NERVEN ÜBERRASCHENDERWEISE DURCH IONENKANÄLE BEEINFLUSST
Ein Team der Karl Landsteiner Privatuniversität Krems identifiziert in 10 Jahres-Projekt unbekannte Rolle von Kalziumkanälen bei der Bildung synaptischer Verbindungen.
Teile bekannter Kalziumkanäle spielen eine entscheidende Rolle für die Bildung von Synapsen. Das ist das überraschende und heute in PNAS veröffentlichte Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie, deren Entwicklung aufgrund großer experimenteller Herausforderungen über 10 Jahre dauerte. Fokus des Teams, das heute an der Karl Landsteiner Privatuniversität Krems (KL Krems) im Forschungsschwerpunkt „Mental Health & Neuroscience“ forscht, waren regulatorische Proteine sogenannter spannungsgesteuerter Kalziumkanäle. Bekannt war, dass die als α2δ (sprich alpha-2-delta) bezeichneten Proteine wichtige Funktionen bei der Signalübertragung an den Synapsen haben – dass sie aber auch bei der Entstehung erregender Synapsen des Zentralnervensystems eine entscheidende Rolle spielen, kam unerwartet und überraschend.
Nerven stehen unter Strom. Bildlich und wörtlich. Letzteres, weil Ionenströme in den Nervenzellen Reize weiterleiten. Mitverantwortlich dafür, dass dies auch zwischen Nervenzellen funktioniert, sind sogenannte spannungsgesteuerte Kalziumkanäle. Sie regulieren u.a. die Ausschüttung von Neurotransmittern an den Synapsen (Verbindungen zwischen Nervenzellen), und damit Gehirnfunktionen wie Lernen und Gedächtnisbildung. Wichtig für ihre Funktion ist ein Protein, das den Kalziumstrom reguliert: α2δ – ein Protein, das auch als Zielmolekül des Medikaments Gabapentin für die Behandlung von Epilepsie und neuropathischer Schmerzen bekannt ist. Doch die synaptische Funktion dieses Proteins zu entschlüsseln, war bisher aus einem ganz bestimmten Grund extrem schwierig. Einem Team um Univ.-Prof. Dr. Gerald Obermair, Leiter des Fachbereichs Physiologie, gelang es im Rahmen des Forschungsschwerpunkts „Mental Health & Neuroscience“ der KL Krems nun, diese Herausforderung in einem 10 Jahres-Projekt zu meistern – und sehr überraschende und grundlegende Funktionen des Proteins zu identifizieren.
KNOCKOUT IN 3 RUNDEN
Klassische Ansätze, um Proteine zu charakterisieren, basieren darauf, dass das Gen des Proteins ausgeschaltet wird (Knockout) und dann die Folgen auf verschiedene zelluläre Funktionen analysiert werden. Nun liegt α2δ jedoch in drei verschiedenen Formen im Gehirn vor – und jede dieser sogenannten Isoformen kann bis zu einem gewissen Grad die Funktion der anderen übernehmen. Und genau darin lag die experimentelle Herausforderung, wie Prof. Obermair erläutert: „Jede Isoform hat ihr eigenes Gen. Schalten wir also nur eines aus, springen die anderen Proteine als Ersatz ein. Darum mussten wir ein zelluläres Nervenzellmodell schaffen, in dem alle drei Gene ausgeschaltet waren.“ Und genau das entpuppte sich als große Herausforderung, mit einer Erfolgsquote von unter 5 Prozent. Doch nachdem diese Hürde genommen war, konnte das Team überraschende und weltweit einmalige Daten sammeln.
„Die Ergebnisse lassen einen klaren Schluss zu“, fasst Prof. Obermair die jahrelange Forschung, die bereits an der Medizinischen Universität Innsbruck begann, zusammen: „Präsynaptisches α2δ ist für die Entstehung erregender Synapsen im Zentralnervensystem unbedingt notwendig. Das ist eine Rolle, die weit über die Regulation von Kalziumströmen hinausgeht.“ Am Anfang der Arbeit war diese grundlegende Funktion nicht erkennbar, obwohl erste Publikationen über diese vermeintliche „trans-synaptische“ Wirkung bereits auf großes Interesse stießen (z.B. im Journal of Neuroscience, s.u.). Doch nach und nach – über viele Experimente, die auch dank der Zusammenarbeit mit der Gruppe von Prof. Ryuichi Shigemoto am Institute of Science and Technology Austria gut gelangen – ergab sich ein eindeutiges Bild.
DIFFERENZIERTE ERGEBNISSE
So zeigten die Ergebnisse, dass die Synapsen kultivierter Nervenzellen ohne α2δ Proteine nicht nur keinen Neurotransmitter mehr ausschütten konnten, sondern ihnen dazu die Kalziumkanäle sowie wesentliche Bestandteile synaptischer Vesikel fehlten. Dies führte zu einer mangelnden Ausdifferenzierung der Nervenenden und in Folge zu einer Abnahme der Glutamat-Rezeptoren an den postsynaptischen Nerven. Daraus lässt sich schließen, dass α2δ‑Proteine auch den Brückenschlag zwischen den beiden synaptischen Seiten organisieren. Mithilfe einer genetischen Zelltherapie konnte in Folge gezeigt werden, dass jede einzelne der drei im Gehirn vorkommenden α2δ-Typen die Synapsenbildung wieder herstellen konnte, was die zentrale Rolle dieser Proteine bestätigte. Aus den Experimenten ergab sich letztendlich eine entscheidende Rolle der α2δ‑Proteine für die Organisation erregender Synapsen, welche unabhängig von der Regulation der Kalziumkanäle ist.
„Dass α2δ-Proteine eine solch umfassende Funktion in der Entstehung der Verbindungen zwischen Nervenzellen haben, ist eine sehr große Überraschung“, betont Prof. Obermair nochmals. „Die Studie beeinflusst unser Verständnis von der Entstehung dieser Verbindungen, den Synapsen. Ja, sie deutet sogar an, dass α2δ das Zentrum sein könnte, um das herum Synapsen organisiert werden.“ Tatsächlich würde dies auch einen neuen Ansatzpunkt bieten, um die Rolle dieses Proteins bei der klinischen Manifestation neurologischer und neuropsychiatrischer Erkrankungen besser verstehen zu lernen – und damit diese bahnbrechenden Ergebnisse aus der Grundlagenforschung in einen Mehrwert für Patientinnen und Patienten zu übersetzen.
Originalpublikationen:
Presynaptic α2δ subunits are key organizers of glutamatergic synapses. C. L. Schöpf, C. Ablinger, S. M. Geisler, R. I. Stanika, M. Campiglio, W. A. Kaufmann, B. Nimmervoll, B. Schlick, J. Brockhaus, M. Missler, R. Shigemoto & G. J. Obermair. Ref. DOI: 10.1073/pnas.1920827118
Presynaptic α2δ-2 Calcium Channel Subunits Regulate Postsynaptic GABAA Receptor Abundance and Axonal Wiring. Geisler S, Schöpf CL, Stanika R, Kalb M, Campiglio M, Repetto D, Traxler L, Missler M, Obermair GJ. J Neurosci. 2019, 39:2581-2605. doi: 10.1523/JNEUROSCI.2234-18.2019.
Über die Karl Landsteiner Privatuniversität Krems
Die Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften (KL) ist Wegbereiterin und Katalysatorin für zukunftsorientierte, gesellschaftlich relevante Lehr- und Forschungsbereiche in der Medizin, der Psychologie und den Gesundheitswissenschaften. In diesem Sinne fokussiert sie auf ein fächerübergreifendes, international ausgerichtetes Studienprogramm, das eine sinnvolle Ergänzung zum klassischen Ausbildungsangebot der öffentlichen Universitäten darstellt. Mit ihrem europaweit anerkannten Bachelor-Master-System stellt die KL eine flexible Bildungseinrichtung dar, die auf die Bedürfnisse der Studierenden und Anforderungen des Arbeitsmarkts abgestimmt ist. In der Forschung konzentriert sich die KL gezielt auf gesundheitspolitisch relevante interdisziplinäre Felder wie Medizintechnik, Psychologie und Psychodynamik, Mental Health & Neuroscience sowie dem Thema Wasserqualität und den damit verbundenen gesundheitlichen Aspekten. Die KL wurde 2013 gegründet und von der Österreichischen Agentur für Qualitätssicherung und Akkreditierung (AQ Austria) akkreditiert.
Wissenschaftlicher Kontakt
Prof. Dr. Gerald Obermair
Fachbereich Physiologie
Department Pharmakologie, Physiologie und Mikrobiologie Forschungsschwerpunkt Mental Health & Neuroscience
Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften
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